In welche Richtung gehen?
Irrwege in der Corona-Pandemie
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Die Auflagen für Wirtschaft und Kontakte durch die Corona-Pandemie in Deutschland sind seit Anfang Mai weniger bedrückend geworden, aber Vereins- und Gruppentreffen finden noch immer vorzugsweise online statt.
Bei einem dieser Online-Meetings stieß ein Teilnehmer dazu, der seit Kurzem in Norditalien wohnt. Die anderen befanden sich zu der Zeit alle in Berlin. In Norditalien hatte es besonders rigide Ausgangsbeschränkungen gegeben und wir hatten alle mitbekommen, wie hart die Pandemie Italien gesundheitlich und ökonomisch getroffen hatte. Deshalb interessierte die Berliner, wie es dem Norditaliener in Corona-Zeiten ergangen war. Die Beschränkungen seien natürlich spürbar gewesen, aber für ihn als Landbewohner weniger bedrückend, berichtete er. Aber vor allem trieb ihn die Sorge um, dass wir in Deutschland doch sehr massiv in unseren Freiheitsrechten eingeschränkt seien und die Medien stark zensiert würden.
Diese Außenwahrnehmung hat mich doch sehr verblüfft. Es stellte sich heraus, dass der Betreffende sich über einen YouTube-Kanal „informierte“, der einem bekannten sogenannten Verschwörungstheoretiker gehört. Mir war dieser Kanal bis dahin fremd, aber ich sah mir das einmal an, denn auf Fragen in meinem Umfeld antworteten viele, dieser Kanal sei ihnen ein Begriff.
In dem beliebtesten Video behauptet der Kanalbetreiber, die Maßnahmen gegen das Vordringen der Corona-Pandemie seien gesteuert von Bill Gates und liefen darauf hinaus, dass wir alle zwangsweise geimpft werden sollten. So würden wir schließlich zu willenlosen Werkzeugen des US-Multimilliardärs. Als Belege für seine Thesen verwies er auf Berichte von ihm eigentlich abgelehnten Mainstream-Medien, die er aber nicht ordentlich gelesen hatte. Er selbst hatte übrigens jahrelang für öffentlich-rechtliche Medien in Deutschland gearbeitet, bis er wegen der Behauptung, der Holocaust sei eine PR-Lüge, gehen musste.
Abgesehen davon, dass die verbreiteten Theorien inkonsistent sind, hat mich vor allem die Haltung geärgert, die mir aus den Statements entgegenschlug: Alle anderen sind naiv, nur ich habe recht. Wahrscheinlich ist es gerade diese Haltung, die seine Theorien für Menschen attraktiv macht. Die Haltung eines Checkers, der kein Opfer der Geschehnisse ist, sondern stark und selbstgewiss in unsicheren Zeiten.
Da bin ich richtig wütend geworden: Niemand weiß den besten Weg, neue Forschungsergebnisse über das Virus kommen jeden Tag hinzu. Manche Schutzmaßnahmen erscheinen im Nachhinein übertrieben oder wurden zu spät ergriffen. Über den richtigen Weg kann Uneinigkeit bestehen und man sollte darüber streiten. Aber jeder und jede Einzelne sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein und mit einer Haltung des Gemeinsinns handeln. Ein altkluger Besserwisser wie dieser YouTube-Channel-Betreiber stellt sich außerhalb der Diskussion. Er will nichts als recht haben und Anerkennung. Für kein wirtschaftliches, soziales oder gesundheitliches Problem macht er konstruktive Vorschläge. Eine Biertisch-Blase, die in Corona-Zeiten viele private Wohnzimmer erreicht.
Wenn es konkret wird, dann handeln die meisten nicht egoistisch und bockig. Aber dass sich viele emotional so einem Dampfplauderer verbunden fühlen, erfüllt mich mit Sorge.
Katja Neppert, Mai 2020, NikodemusMagazin Neue Wege